Jutta Reichardt weiß, wovon sie spricht. Die Fachbereichsleiterin der SozDia Stiftung Berlin ist u.a. für Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe und der Sozialpsychiatrischen Assistenz verantwortlich. Dabei begegnen ihr Menschen, die den Anschluss an die Mitte der Gesellschaft verlieren– psychisch Kranke, denen die Kraft fehlt, morgens aufzustehen, Abhängige, die keine Termine des Alltags wahrnehmen können, depressive Menschen, die in ihren Jobs am Leistungsdruck zerbrochen sind. Welchen Wert haben sie für den Rest der Gesellschaft?
„Es kommt auf den Blickwinkel an: Fragen wir danach, was fehlt oder fokussieren wir uns auf vorhandene Ressourcen? Wer gabenorientiert denkt, findet Vertrauen zu sich selbst und so zurück ins Handeln“. Juttas Vision ist, alle Menschen teilhaben zu lassen. Nicht irgendwie und irgendwo, sondern in der Mitte der Gesellschaft. Dafür, dass niemand ausgeschlossen wird, arbeitet sie mit ihren Teams jeden Tag. Alle Menschen haben Fähigkeiten, manche brauchen lediglich Hilfe dabei sie zu entdecken und zu erschließen. „Natürlich kann ich zum Beispiel mit einem Alkoholkranken täglich über sein Suchttagebuch sinnieren. Oder ich lege das mal kurz zur Seite und versuche Chancen zu entdecken und verborgene Potenziale zu wecken. Es gab immer auch ein Leben vor dem Alkohol“.
In ihrer täglichen Arbeit befähigen Jutta und ihre Kolleg*innen Menschen dazu, Barrieren zu überwinden und den eigenen Wert (wieder) zu entdecken. Ein Schlüssel zur erfolgreichen Teilhabe ist das Inklusive Arbeiten. „Wir bieten beispielsweise Menschen mit Beeinträchtigungen einen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt an. Nicht exklusiv in einer spezifischen Behindertenwerkstatt – nein, unsere Mitarbeitenden sind Teil des Ganzen und werden z.B. in Kitaküchen in den regulären Betrieb integriert“. Die Arbeitsstätten müssen dafür über fachkundige Ansprechpersonen verfügen und brauchen ein verständnisvolles Kollegium. Menschen mit Behinderung oder psychischen Beeinträchtigungen haben häufig mehr Fehltage oder beanspruchen besondere Hilfsmittel. Das geht nicht allein per Konzept, das lebt von der Zwischenmenschlichkeit: „Inklusives Denken hat etwas mit Würde zu tun“, sagt Jutta.
Das betrifft auch ganz andere Bereiche ihrer Arbeit. So fordert Jutta lautstark mehr Prävention: „Gäbe es mehr sinnvolle Orte für Jugendliche, wären auch Hilfsangebote für Erwachsene weniger überlastet, weil weniger Menschen davon bedroht sind, abzurutschen“. Sie kritisiert daher eine fehlerhafte Geldverteilung – seit Jahrzehnten schwanke die Bereitschaft zur Finanzierung. Die offene Kinder- und Jugendarbeit sei wie im aktuellen Haushalt des Senats immer wieder davon bedroht, nicht ausreichend finanziert zu werden. Kocht die Situation über, wie im Zuge der Silvesterkrawalle, werden akut größere Summen in den Kreislauf gebracht, nur, um den Bereich an anderer Stelle wieder zu vernachlässigen: Es braucht eine grundsätzliche Haltung, um gesellschaftlichen Krisen vorzubeugen und junge Menschen nachhaltig zu befähigen, ein vollwertiger und integrierter Teil der Gesellschaft zu werden. Dafür braucht es soziale Angebote, Begegnungsstätten wie Jugendklubs, qualifiziertes Personal – und dafür braucht es eben auch Budget. Fortlaufend, nicht situativ.
„Wir haben uns an bettelnde Menschen gewöhnt, an die Schlafplätze von Obdachlosen auf der Straße. Das ist ein Fehler“. Jeder Mensch hat Anspruch auf mehr. Aber die Umsetzung dieser Bedarfe ist nicht immer realisierbar. Der theoretische Rechtsanspruch, zum Beispiel in der Wohnungslosenhilfe müsste daher den tatsächlichen Gegebenheiten im Land Berlin angepasst werden.
Einmal im Hilfesystem angekommen, gibt es für die Klient*innen Hoffnung. Dabei geht es zuweilen nicht nur um eine Betreuung, es braucht auch Wohnraum – für, in persönlichen Krisen, auch von Obdachlosigkeit bedrohte Menschen ist das zunächst die hauptsächliche Herausforderung, bevor sie sich ihren ursächlichen Problemfragen überhaupt erst widmen können. Die Vernetzung der Einrichtungen untereinander sei ein besonderer Wert einer komplexen Trägerin wie der SozDia: „Wir bieten etwa psychisch kranken Menschen die Möglichkeit über strukturierte Abläufe in einem sicheren Zuhause wieder Halt zu finden. Sie gehen einem geregelten Tagesablauf nach und finden in anderen Angeboten neue Perspektiven“. Das kann die Pflege von Heimtieren auf dem Abenteuerspielplatz in Köpenick sein oder die Bewirtschaftung eines Gemüsebeets im Interkulturellen Garten in Lichtenberg. Diese sinnstiftende Tätigkeit hilft vielen Klient*innen dabei, wieder Selbstwertgefühl zu finden, Stärken und Interessen herauszuarbeiten und neuen Antrieb zu gewinnen.
Der Auftrag sozialer Arbeit ist Ressourcen zu erschließen, die die Betroffenen zuvor selbst nicht kannten und dadurch neue Türen zu öffnen. Die Chance auf eine Perspektive hat jeder Mensch verdient. Dafür müssen wir hinsehen und zuhören. Es ist nicht so schwer, sagt Jutta, man müsse nur wollen: „Die Basis dafür kann ein gemeinsames Frühstück sein“.
Über Jutta Reichardt
Jutta Reichhardt leitet seit Mai 2022 den Fachbereich Erwachsene & Teilhabe in der SozDia Stiftung Berlin. Hier verantwortet sie verschiedene Einrichtungen in der Wohnungsnotfallhilfe, Gemeinwesenarbeit, Sozialpsychiatrischen Assistenz sowie Inklusive Arbeitsplätze und Übergänge in Arbeit. Zusammen mit ihren Kolleg*innen arbeitet sie täglich an der gemeinsamen Vision jedem Menschen einen Platz in der Mitte der Gesellschaft zu ermöglichen. Bereits seit dreißig Jahren befähigt und integriert Jutta Menschen durch Beziehungsarbeit auf Augenhöhe und einen ressourcenorientierten Fokus zur Teilhabe.
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Volkskrankheit Depression
Psychische Erkrankungen können eine Ursache dafür sein, den Anschluss zu verlieren. Zu den häufigsten Krankheiten zählt dabei die „Volkskrankheit“ Depression. Jede vierte Frau und jeder achte Mann erkranken im Laufe ihres/seines Lebens daran. Von temporären Verstimmungen bis hin zu schweren depressiven Störungen betrifft sie alle Altersgruppen. Wenngleich die Krankheit schwerwiegende Folgen haben kann, gilt sie als gute behandelbare Störung, vor allem wenn sich Betroffene rechtzeitig professionelle Hilfe holen. Weitere Informationen und Hilfsangebote finden Sie unter www.deutsche-depressionshilfe.de. Die akute Seelsorge erreichen Sie rund um die Uhr unter 0800/ 111 0 111 oder im Chat: telefonseelsorge.de. Oder Sie melden sich direkt bei der Sozialpsychiatrischen Assistenz der SozDia unter sozdia.de oder 030/206 79 206.